Die Studienwoche unter der Leitung von Dr. Christian Ströbele, Dr. Ertuğrul Şahin und Stefan Zinsmeister richtete sich an motivierte Studierende und Promovierende und fand bereits zum 15. Mal statt. Das Angebot ermöglichte den Teilnehmenden einen nachhaltigen interreligiösen Austausch.
Bereits am Sonntagabend fand die Begrüßung bei einem ersten gemeinsamen Abendessen statt. Das Verfolgen der Bundestagswahl 2021 wurde durch eine Übertragung auf eine Leinwand ermöglicht. Die Teilnehmenden kamen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und waren bunt gemischt in ihrer fachlichen und religiösen Zugehörigkeit. In den Gruppenarbeiten wurde auf das ausgewogene Geschlechterverhältnis von christlichen und muslimischen Teilnehmenden geachtet, sodass unterschiedliche Religionen und Konfessionen im Austausch zusammenkamen. Den nachhaltigen interdisziplinären, interreligiösen und persönlichen Austausch erlebten die Stipendiatinnen und Stipendiaten in der Woche als sehr fruchtbar.
Das eingespielte Team der Tagungsleitung stellte ein abwechslungsreiches Programm zusammen, welches ebenfalls ein ausgewogenes Verhältnis zwischen muslimischen, christlichen und generell religionswissenschaftlichen Fragestellungen beinhaltete. Unterstützt wurde die Tagungsleitung von Ali Karaca, der als Praktikant schon im Vorfeld in Planung und Organisation tätig war und auch während der Studienwoche als ständiger Ansprechpartner diente.
Der Dialog außerhalb des Programms fand auf einer sehr direkten Ebene in gemütlicher Atmosphäre statt und war stets geprägt von gegenseitigem Zuhören und Respekt. Allerdings ließ sich beobachten, dass es unter Studierenden gleicher Konfession eher zu Disputationen über Glaubensinhalte kam, während die Gespräche interreligiös eher einen Charakter des gegenseitigen Kennenlernens und Erklärens der Glaubenspraktiken beinhalteten.
Die erste inhaltliche Einheit am Montagmorgen leitete Stefan Zinsmeister von der Eugen-Biser-Stiftung in München, welche die Studienwoche dankenswerterweise bezuschusst. Folgenden Fragen widmeten sich die Studierenden anhand ausgewählter Begriffe wie Offenbarung, Freiheit, Würde, die in Kleingruppen erarbeitet wurden: „Wieso braucht es einen Dialog? Warum braucht es ein Lexikon dafür? Können gleiche Begriffe so unterschiedliche Bedeutungen haben?“ Dabei wurde jeweils der islamische und christliche Artikel des Lexikons des Dialogs berücksichtigt. Schnell wurde hier klar, dass man nicht einfach das christliche Konzept beispielsweise auf den islamischen Begriff Offenbarung anwenden kann und andersherum. Ausgewählte Artikel des Lexikons wurden hinsichtlich formaler und inhaltlicher Unterschiede und Gemeinsamkeiten untersucht und diskutiert.
Die Nachmittagseinheit „Christliche Ethik in säkularen Gesellschaften“ wurde von Prof. Dr. Claudia Paganini von der Hochschule für Philosophie München gestaltet. An einen äußerst abwechslungsreichen Vortrag schloss sich eine Diskussion mit vorangehender Gruppenarbeit zu unterschiedlichen Fallbeispielen an. Frau Paganini stellte traditionelle christliche Ethikkonzepte vor und erweiterte die Perspektive auf verschiedenste Bereiche der Ethik. Sowohl die Medizinethik mit Fokus auf der Prinzipienlehre und deren Vor- und Nachteile als auch die Tierethik wurden thematisiert. Frau Paganini gelang es so, die traditionelle christliche Ethik zwischen thomistischem und augustinischem Modell in Bezug zu setzen zu besonders aktuellen Bereichen der Tierethik und vor allem der Medienethik.Christliche Tierethik ist vor allem durch die immer mehr in Deutschland aufkommenden Human Animal Studies ein äußerst aktuelles Thema und kann insbesondere auf die biblischen Schöpfungsgeschichten des Buches Genesis angewandt werden. Die Medienethik stellt wohl einen der jüngsten Bereiche der angewandten Ethik dar. Angeschnitten wurden Fragen rund um Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit, Werbung, Mediennutzung und Bildarbeit. Besonders der Übergang vom Analogen zum Digitalen und die damit verbundenen Sorgen und Ängste der älteren Generation wurden thematisiert. Frau Paganini spricht von einer Digitalisierungsangst. Diese und die enorm schnellen Entwicklungen im Bereich der Medien unserer Zeit stellen die Medienethik in einen interdisziplinären und interkulturellen Kontext, welcher sich gut an das Thema der Studienwoche anschloss.
In der zweiten Einheit führte Dr. Ertuğrul Şahin in die islamische Ethik in säkularen Gesellschaften ein. Die Frage, wie islamische Theologie eine Sozialethik weiterentwickeln kann, hänge zuallererst von der Frage nach der Methodik ab. Religiöses Wissen solle unter anderem stets kontextualisiert werden. In dieser Einheit wurden unterschiedliche Glaubensschulen in Bezug auf ihre Konsequenzen für Menschenbild, Handlungs- und Ethikverständnis betrachtet: Aschʿarīya, Māturīdiyya, Muʿtazila.
Nach dem Mittagessen fand eine Führung durch die Barock-Basilika des Klosters Weingarten statt.
Im Anschluss wurde von Magdalena Kopf (Universität Tübingen) mit einem Impulsvortrag zur theologischen Verhältnisbestimmung von Islam und Christentum aus christlicher Sicht, welcher sich größtenteils an Karl Rahner orientierte, eingeleitet. Die anschließende Gruppenarbeit befasste sich mit den unterschiedlichen Offenbarungsmodellen nach Perry Schmidt-Leukel: Epiphanisches, Instruktionstheoretisches und Kommunikationstheoretisches/Personalistisches Offenbarungsparadigma. Zu jedem Modell wurden gruppenweise Vor- und Nachteile des Offenbarungsansatzes dargestellt. Diskutiert wurde, inwiefern das epiphanische Paradigma ebenfalls auf Inhalte fokussiert und wie stark dieses spezifisch biblisch verortet ist. Insgesamt lag der Konsens darauf, dass das instruktionstheoretische Offenbarungsmodell für das moderne Menschenbild eher schwierig sein könnte, denn hier werden die Offenbarungsweisheiten dem Menschen wie ein Paket „von oben herab“ zugesendet. Diskutiert wurde darüber, inwiefern dann Glaubensinhalte stärker als festgeschrieben und unhinterfragbar verstanden werden und ob dies Deutungskontroversen verkleinern, aber ein interreligiöses Gespräch erschweren würde, da damit die Wahrheitsansprüche schnell universalistisch und exklusiv erscheinen. Am modernsten in Bezug auf die anthropologische Komponente erschien das kommunikationstheoretische Offenbarungsmodell mit stark personalistischer Note. Bei diesem Paradigma wird der Mensch eher als der Partner Gottes angesehen und die Offenbarung erweist sich als ein Kommunikationsgeschehen. Die interreligiöse Anfrage war hierbei, ob dieses scheinbar moderne Paradigma auch mit nichtchristlichen Religionen vereinbar ist. Ebenso wurde diskutiert, was denn dann noch als Offenbarung bezeichnet werden könne: wie und wem teilt sich Gott mit? Jedoch erwies sich das Offenbarungsmodell doch am offensten für das interreligiöse Gespräch – der universalistische Wahrheitsanspruch ist hier weniger tragend als vielmehr der Prozessgedanke, was eine interreligiöse Perspektive eröffnet.
Der Tag wurde mit dem Film „Ein Licht zwischen den Wolken“ und im Anschluss einer regen Diskussion, ob ein Gotteshaus von zwei Religionen genutzt werden kann, beendet. Hierbei symbolisierte der Streit eines Dorfes um ein altes Gotteshaus die unterschiedlichen Ansprüche verschiedener Weltreligionen und die daraus möglicherweise entstehenden Konflikte. Daran schloss die Einheit von Prof. Rötting am Freitag sehr gut an.
Im dritten thematischen Block referierte Elif Emirahmetoglu von der HU Berlin über die Betrachtung der Vielfalt der Gottesvorstellungen aus sufischer Perspektive einleitend mit Blick auf die mystische Tradition nach Ibn al-ʿArabī (1165–1240). Hier kam das Christentum aus islamischer Sicht in Abgrenzung und Annäherung zur Sprache. Die Referentin ging auf die Verhältnisbestimmung verschiedener theologischer Positionen ein. Sie stellte zwei Hauptaspekte Gottes im Koran heraus: Transzendenz und Immanenz. Muslime glauben an einen einzigen transzendenten Gott, welcher die ewige, unendliche Wirklichkeit ist. Menschen können aber über Gott sprechen, weil er sich immer wieder in der Welt gezeigt hat und daher eine Vermittlung stattfindet. So wird Gott als Beschützer, Versorger und Beobachter und als überall gegenwärtig gesehen; er ist also in der Welt wirksam und somit auch immanent. Elif Emirahmetoglu diskutierte das Konzept der Selbstmanifestationen Gottes im paradoxalen Verhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz. Ein weiteres Vermittlungskonzept ist die Vorstellung des Menschen als Spiegelbild Gottes mit der Seele (nafs) als Bindeglied zwischen Mensch und Gott. Des Weiteren wurden drei Formen der Gotteserkenntnis vorgestellt: 1. Vernunfterkenntnis, 2. Erfahrungserkenntnis, 3. Offenbarungserkenntnis. Die Gottesvorstellungen sind unterschiedlich, daher darf man Gott nicht auf eine Vorstellung beschränken und kann keine der Religionen einen absoluten und exklusiven Wahrheitsanspruch haben. Im Anschluss wurden mögliche Konsequenzen der Auffassungen Ibn al-ʿArabīs für interreligiöse Gespräche im Plenum diskutiert: „Wie kann man mit Verschiedenartigkeit der Gottesbilder (oder auch Religionen) umgehen? Wie kann man die Gottesvorstellung des anderen verstehen und dabei Gott erkennen? Lassen sich vom Standpunkt einer Religion andere Religionen überhaupt richtig verstehen? Kann man andere Gotteserfahrungen, Glaubensformen und Religionen irgendwie beurteilen? Wenn ja, nach welchen Kriterien – Vernunft, Ethik oder Offenbarung?“ Der Referentin gelang es in ihrer Präsentation, theologische Fragestellungen den Studierenden äußerst strukturiert nahezubringen, so dass eine rege Diskussion über die Konsequenzen für den Dialog und das interreligiöse Selbstverständnis der Teilnehmenden entstand.
Der Nachmittag gestaltete sich in Kleingruppenarbeit. Themen waren hierbei: Narrative und Stereotypen – Interreligiöse Bildung – Der Mensch als Geschöpf – Theologie und Naturwissenschaft. Am Mittwochabend organisierte die Gruppe einen Ausflug an den Bodensee.
Am Donnerstag stellte Prof. Dr. Christian Walter von der LMU München religionsrechtliche Aushandlungsprozesse im religionspluralen und säkularen Kontext vor. Der juristische Fokus wandte den Blick der Teilnehmenden nochmal auf ein neues Feld.
Folgende Themen wurden fokussiert: I. Modelle des Verhältnisses von Staat und Religion (Trennung, Kooperation, Staatskirche) und ihren ideengeschichtlichen Aspekt. II. Der gegenwärtige europäische Rechtsrahmen (Europäische Menschenrechtskonvention und Europäische Union). III. Aktuelle Streitfragen in Deutschland (muslimischer Religionsunterricht und muslimische theologische Fakultäten, Kopftuch am Arbeitsplatz, kirchliches Arbeitsrecht).
Im Anschluss wurde ein Planspiel zu einer bioethischen Fragestellung in unterschiedlichen Rollen durchgeführt. Hier wurden die vielschichtigen Überlegungen der letzten Tage praktisch angewandt.
Am Donnerstagabend gab Prof. Dr. Martin Rötting von der Universität Salzburg Einblicke in seine Forschung zu spirituellen Identitäten in einer interreligiösen Welt, welcher eine spannende Grundlage für die letzte Einheit der Woche bot. Der Referent begann seinen Vortrag mit dem Zitat: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es aber vorwärts“ (Kierkegaard). Dahinter steckt der Versuch, den Erfahrungsschatz der Vergangenheit für die eigene Identität zu reflektieren. Spirituelle Identität wird, so die von Rötting vorgeschlagene Bildmetapher, als „Navigationshilfe“ im Lebensweg des Menschen gesehen. Identität wird dabei als narrativ und als eine Funktion des Selbst verstanden. Die Aufgabe spiritueller Identität ist die sinnvolle Deutung von Lebensereignissen und Lebenserfahrungen. Der Mensch entwickelt in seiner Biographie unterschiedliche „Sinnkarten“. Gelungene spirituelle Identität führt zu einem Erleben von Kohärenz und der Erfahrung von Glück. Eine Frage im Plenum war: „Was braucht man für eine gelungene spirituelle Identität?“ Röttings Antwort war, dass man eine funktionierende, „saliente“ „Sinnlandkarte“ benötige. Religion lege dabei nicht die Koordinaten fest, sondern trage bei zu fortwährend nötigen „Updates“ der „Sinnkarte“.
Auch den Freitagvormittag gestaltete Martin Rötting mit einem Vortrag, der als Abschluss der Studienwoche einen äußerst praktischen Ansatz einer europäischen Vision vom Christlich-Islamischen Dialog bot: Er stellte Häuser und Räume als interreligiöse Lernorte vor. Gemeinsam wurden dann Probleme und Chancen diskutiert. Hierbei orientierte sich Rötting an modernen Beispielen wie dem Haus der Stille auf dem Frankfurter Campus, dem Wiener Campus der Religionen oder dem House of One in Berlin. „Multi-religious-spaces“ können dabei als Spiegel interreligiöser Prozesse gesehen werden. Im Plenum wurden die interreligiösen Häuser als Lernorte und Begegnungsorte positiv bewertet und diskutiert, wie es zu einem Miteinander und nicht zu einem stummen Nebeneinander kommen könne.
Eine thematisch sehr dichte, aber äußerst abwechslungs- und eindrucksreiche Woche ging damit zu Ende und vor dem letzten gemeinsamen Mittagessen erfolgte eine Evaluation derselben.
Folgendes Fazit der Studienwoche lässt sich für die Studierenden und Promovierenden ziehen: Der interreligiöse Dialog kann in allen gesellschaftlichen Bereichen dazu beitragen, ein sensibles Verständnis füreinander zu ermöglichen. Die inhaltlichen Einheiten dienten als gute Diskussionsgrundlage. Die Teilnehmenden schafften in der Studienwoche eine offene Atmosphäre und dadurch wurde die Bereitschaft, einander zuzuhören und respektvoll miteinander umzugehen, gefördert und wissenschaftlich reflektiert. Sie sehen dies als wichtige Erweiterung ihrer interreligiösen Dialogkompetenz und können so auch in ihrem alltäglichen Umfeld und wissenschaftlichem Kontext Toleranz und gegenseitiges Verstehen fördern. Besonders wichtig ist der offene Umgang mit religiöser Vielfalt. Es gibt keinen anderen Weg als den der konsequenten Verfolgung der Annäherung und des Gesprächs. Das heißt wir dürfen nicht aufgeben, aufeinander zu zugehen.