Studierende mit christlicher und Studierende islamischer Religion, fünf Tage Zusammensein – dazu eine Menge Fragen zum eigenen Nachdenken und für die Diskussion untereinander.
Viele Fragen rund um das Thema „Konflikt- und Friedensethik“
Welchen Beitrag leisten Religionen für ein friedliches Zusammenleben? Was sind die Voraussetzungen, dass sie, dass wir überhaupt in einen Dialog treten können? Welche Bilder des Anderen tragen wir in unseren Köpfen? Wie wurden und werden Narrative konstruiert, stimmen sie sachlich wie historisch überhaupt, und wer verfolgt mit ihnen welche Ziele? Und wie geht es uns selbst, wenn wir plötzlich in ein Planspiel gesteckt werden: Da berichtete ein – fiktiver – Zeitungsartikel über Unruhen zwischen einer sich radikalisierenden muslimischen Gemeinde und einem islamfeindlichen Stadtviertel. Wie bringt man in dieser spannungsgeladenen Situation ein Treffen mit allen Beteiligten zustande, mit der Kommune, der Bürgermeisterin und der Integrationsdezernentin?
Lexikon des Dialogs
Veranstalter der Studienwoche zu christlich-islamischen Beziehungen im europäischen Kontext waren die Eugen-Biser-Stiftung und die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Und mit einem Blick ins Lexikon, genauer gesagt ins „Lexikon des Dialogs: Grundbegriffe aus Christentum und Islam” (erschienen 2013), begann das Programm. Ziel des Nachschlagewerks sei es gewesen, Verstehenshorizonte für die Schlüsselbegriffe einer Religion auszuloten, und eine gemeinsame Sprache zu schaffen, sagte Stefan Zinsmeister von der Eugen-Biser-Stiftung. Aber wie weit ist das gelungen? „Friede“, „Toleranz“, „Politik”, „Verfassung” – die Lexikonartikel setzen sich aus unterschiedlichen Ansätzen, Formen und Stilen zusammen. Wie repräsentativ oder allgemeingültig sind sie im Einzelnen? Die ganz und gar nicht trockene Arbeit an den Lexikonartikeln legte den Studierenden eine kritische Reflexion nahe über die Schwierigkeiten, Inhalte der eigenen oder einer anderen Religion begrifflich genau und trotz Zwang zur Kompaktheit gültig zu formulieren.
Begegnungsverhältnisse
Mit Dr. Ufuk Topkara („Konversationen auf dem Weg zu einer pluralen Gesellschaft: Begegnungsverhältnisse von Islam und Christentum”) kam es dann zu einem Austausch über das Wahrheitsverständnis und die (vermeintliche) Essenz der eigenen Religion, über die Urteilsfähigkeit des Menschen angesichts göttlicher Allmacht sowie über den Umgang mit anderen Religionen und Weltvorstellungen. Es stellte sich heraus, wie entscheidend es ist, sich über die Positionierung innerhalb der eigenen Religion im Klaren zu sein, um nach außen hin sprachfähig zu werden.
Dr. Michaela Quast-Neulinger („Der Beitrag der Religion(en) zu einem Friedensprojekt Europa – Systematisch-theologische Perspektiven auf das Verhältnis von Christentum und Islam”) warf weitere Fragen auf: Wie kommen wir heraus aus den Mechanismen von Othering, Selbstviktimisierung, Immunisierung und Feindschaft? Wie steht es um das Verhältnis und die Gespräche der beiden Religionen? Das reflektierten die Studierenden mit einem Blick auf das „Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen und das Zusammenleben in der Welt”, welches 2019 von Papst Franziskus und Großimam Aḥmad aṭ-Ṭaiyib unterzeichnet wurde. Abschließend gab Frau Quast-Neulinger einen Einblick, wie in der byzantinischen Theologie- und Reichsgeschichte die Jesusmutter Maria als Kampffigur inszeniert wurde – und wie dieses Narrativ bis heute fortbesteht, beispielsweise in Form der Marienbildchen, die Patriarch Kyrill den russischen Soldaten an die Ukraine-Front mitgibt.
Friedensethik
Dr. Veronika Bock („Christliche Ethik am Schnittpunkt von Friedensethik, Militärethik und Sicherheitspolitik”) fragte, ob der Begriff „Friedensethik” nicht per se widersprüchlich sei, und konkretisierte dies auf die Rolle der Ethik im Militär hin. Dr. Bock arbeitet am „Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis)”, zu dessen Aufgaben es gehört, als kirchliche Bildungspartnerin der Bundeswehr in ethischen Fragen beratend zur Seite zu stehen. Diese Zusammenarbeit von Kirche und Militär war nicht nur für einige muslimische Studierende neu. Als Grundlagen eines „gerechten Friedens“, eines Leitprinzips der christlichen Friedensethik, skizzierte Dr. Bock Erinnern, Vertrauenaufbauen, Schuld, Versöhnung und Vergebung.
Dass manche Dinge bei genauerer Analyse schwieriger werden, als sie auf den ersten Blick scheinen, wurde auch deutlich bei der Einführung in die Grundlagen islamischer Friedensethik durch Dr. Heydar Shadi. Seine Kernaussage, die muslimischen Gelehrten seien sich einig darin, dass ausschließlich ein Verteidigungskrieg legitim sei, beantwortete für viele zwar eine der wichtigsten Fragen. Doch blieb offen, ab wann ein Krieg defensiv und somit legitim sei.
Wie nimmt man in der deutschen Gesellschaft „die“ Muslime überhaupt wahr?
Der Vortrag von Dr. Ertugrul Sahin präsentierte dazu Perspektiven, die für die meisten Studierenden neu waren. Sahins Hauptaussage lautete: Gerade beim Umgang mit dem radikalen Islamismus finde eine Homogenisierung der Muslime in ihrer Gesamtheit statt. In der Konsequenz würden einfache muslimische Merkmale, wie das Kopftuch, bereits als „radikal“ wahrgenommen – dabei machten tatsächlich radikale Islamisten unter den Muslimen in Deutschland nur einen geringen Teil aus. Beim anschließenden, eingangs erwähnten Planspiel wurde dieser theoretische Input auf ein Praxisbeispiel angewendet – das Propagieren und Dekonstruieren von dabei vorherrschenden Fremdbildern war für alle Beteiligten eine ungewohnte, aber lehrreiche Erfahrung.
Wie verorten Musliminnen und Muslime sich selber?
Darüber sprach Dr. Amir Dziri von der Universität Fribourg unter der Überschrift „Gesellschaftliche Megatrends: Säkularisierung, Pluralisierung, Individualisierung.“ Eine seiner Thesen: Die Vorstellung, dass der Islam sowohl den Glauben und als auch den Staat zu repräsentieren habe, sei ein modernes Phänomen. In der islamischen Geschichte gebe es durchaus unterschiedliche Muster der Verhältniszuordnung von Religion und Macht. Narrative, wie sie in Glaubensgemeinschaften kursierten, seien häufig Konstruktionen, die historisch nicht belegbar seien.
Ferner stellte sich die Frage, inwiefern der Islam einer säkularen Selbstbestimmung bedarf, wie sie das Christentum offenbar entwickelt habe, und inwiefern diesbezüglich islamische Normen mit solchen des Christentums vergleichbar sind.
Die Studienwoche in Lindenberg im Allgäu bot einen Ort für lebendigen Austausch, während des offiziellen Programms ebenso wie beim gemeinsamen Essen und bei abendlicher Freizeitaktivität. Das Gottesbild, die Rolle der heiligen Schriften, die Bedeckung der Frau und vieles mehr – hier wurde interreligiöser Dialog nicht nur analysiert, sondern praktisch vollzogen und weitergeführt.
Von den aus der Studienwoche 2022 hervorgegangenen Essays sind 2023 vier mit dem Preis der Georges Anawati Stiftung prämiert worden.