Warum stellt die Frage nach einer geschlechtergerechten Theologie noch immer eine solche Provokation dar? So fragten Prof. Dr. Anja Middelbeck-Varwick (Frankfurt) und JProf. Dr. Armina Omerika (Frankfurt) einleitend zu der Tagung Theologie – gendergerecht? Perspektiven für Islam und Christentum. Die Frage, wie Genderdiskurse innerhalb der islamischen und christlichen Theologie verortet sind und wie diese ablaufen, sei angesichts bestehender heteronormativer Geschlechterordnungen und Geschlechterhierarchien, die allerdings immer auch kontextualisiert gemeinsam mit ihren Infragestellungen in den Blick genommen werden müssten, und angesichts der gesellschaftlichen Anfragen an VertreterInnen des Islams und des Christentums, ob diese Religionen nicht Gleichstellung und Emanzipation verhinderten, von höchster Aktualität. Zu Beginn der Tagung verlas Dr. Jutta Sperber ein Grußwort von Dr. Risto Jukko, dem Direktor der Commission on World Mission and Evangelism des World Council of Churches (Genf).
Theologie als Form der Vergegenwärtigung Gottes
„Ist geschlechterbewusste Theologie kalter Kaffe oder noch aktuell?“ fragte Prof. Dr. Helga Kuhlmann (Paderborn) und bot einen differenzierten Überblick über die Entwicklung der Geschlechter- und Gendertheorien beginnend mit der Frauenbewegung im Deutschland der 1970er Jahre. Ihr Fazit: Trotz Liberalisierungen, etwa die Möglichkeit des Geschlechtseintrages „divers“ seit 2018, sei eine Rücknahme von erreichten Liberalisierungen und eine Befestigung traditioneller geschlechtsdifferenter Funktionen festzustellen. Zudem behielten die Impulse angesichts des Gender Pay Gap von aktuell 21 Prozent, der zu über 80 Prozent von Frauen verrichteten unbezahlten Care Arbeit und eines Chefinnenanteils von 15 Prozent in Deutschland ihre Berechtigung. Theologisch gelte es, die vielfältige und an vielen Stellen queere Gottesmetaphorik wiederzuentdecken und Gottes Personalität grammatisch männlich und weiblich auszudrücken.
Prof. Dr. Juliane Hammer (North Carolina) gab einen Einblick sowohl in den akademischen Diskurs als auch in den muslimischen Aktivismus im US-amerikanischen Kontext. Eindrücklich warnte sie, dass angesichts der Kolonialgeschichte die Kritik an muslimischen Gesellschaften für repressive Praktiken in Bezug auf Gender stets in der Gefahr eines imperialistischen Herrschaftsimpetus stehe. Hier sei die klare Identifikation verschiedener Systeme der Unterdrückung und die Analyse ihrer Verbindungspunkte gefragt. Als zeitgenössische feministische muslimische Wissenschaftlerinnen stellte sie Amina Wadud, Kecia Ali und Jerusha Thanner Rhodes vor und gab Einblick in aktuelle Projekte, wie das Projekt „Musawah“, das mit einem ganzheitlichen Ansatz zur Gleichstellung in Familien arbeitet. Dass jedes konkrete Bemühen um Gendergerechtigkeit eine Form der Vergegenwärtigung Gottes sein kann, sofern es im Bewusstsein des göttlichen Auftrags geschieht, sich für Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Insofern kann auch Theologie, die Praxis ist, Gott vergegenwärtigen, wenn sie für (Gender-)Gerechtigkeit eintritt.
Geschlechter(-ordnungen) in Koran und Bibel
Dr. Nimet Seker (Frankfurt) betrachtete die Geschlechterordnung im Koran und zeigte, wie man den Koran geschlechtergerecht lesen kann. Gott, der durch seine absolute Transzendenz ungeschlechtlich beschrieben wird, dies jedoch in einer geschlechtlich codierten Sprache, schafft den Menschen als Paar. Dem Menschen käme sein Geschlecht so nicht als inhärentes Merkmal zu, sondern als Identität, die erst im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander entstehe. So zeichne sich das Bild einer zweigliederigen Geschlechterordnung, in der die Gleichheit der Geschlechter betont wird, gleichzeitig aber wird das männliche Handeln in ethisch-rechtlichen Bestimmungen bevorzugt behandelt werde. Am Beispiel Marias, die in unterschiedlichen Zusammenhängen grammatisch männlich und weiblich genannt wird, zeigte Nimes Seker sodann eine beispielhafte Sprengung binärer Geschlechtskategorien auf.
Prof. Dr. Marie-Therese Wacker (Münster) beschrieb im ersten Teil ihres Vortrags die biblische Darstellung von Menschen, deren körperliches Geschlecht auf bestimmte Weise markiert ist, den Eunuchen, und das inklusive Gotteskonzept, das mit ihrer Akzeptanz aufgewiesen werden kann. Im zweiten Teil untersucht sie die biblische Grundlegung einer der machtvollsten Institutionen der Geschlechterordnung: Ehe, Scheidung und Wiederheirat. Marie-Therese Wacker unterzog die ethische und rechtliche Übertragung und Festlegung dieses Gebots in die aktuelle kirchliche Lehre einer fundierten Kritik, hob darin das Bemühen um Anpassung und Lebbarkeit der Gebote in ihrem biblischen Kontext heraus und nahm Maß an den Erwartungen wachsender Gegenwartskompatibilität.
Wer normiert Identität?
Eine Vermehrung von Identitäten stellte Dr. Susannah Ticciati (London) fest und ordnete diese in zwei Spannungen ein. In der Spannung zwischen Privatem und Öffentlichem wählt das Individuum seine Identität selbst aus, es müsse aber in seiner Wahl durch die öffentliche Anerkennung bestätigt werden. In der Spannung zwischen Gegebenem und Konstruiertem werde Identität entweder biologistisch oder essentialistisch als vorgegebene Größe gefasst, die entweder nur festgestellt, oder aber performativ vom Individuum selbst konstruiert werden müsse. Beide Spannungen fasste Susannah Ticciati in der Dichotomie von Normativität und Beschreibung zusammen und stellte einen Widerspruch im Identitätsdiskurs fest: Beschreibung ersetzt Normativität, wird darin jedoch selbst normativ. Ein Normativitätsbegriff, der dieses Dilemma umgeht, wurde beispielhaft am Epheserbrief (Eph 4,1) aufgezeigt, in dem das Sollen in einem grundsätzlichen Sein verwurzelt ist. So wird Autonomie als Integrität in Beziehung konturiert, deren Ort der Verhandlung der öffentliche ethische Diskurs sein muss.
Die Ungleichbehandlung der Geschlechter in den Texten der islamischen Normlehre diskutierte JProf. Dr. Mira Sievers (Berlin) am Beispiel der Diskussion des Sorgerechts des hanafitischen Gelehrten as-Saraḫsī im 11. Jahrhundert und kontrastierte sie mit systematisch-theologischen Überlegung über die göttliche Gerechtigkeit, verstanden als göttliches Handeln des Gleichmachens oder Ausgleichens. In der Gegenüberstellung zog sie das Fazit, dass die als gottgewollt verstandenen Ungleichheiten in den Geschlechterverhältnissen sich nach einer genderorientierten Analyse nicht widerspruchsfrei mit dem im Koran entfalteten Konzept von Gerechtigkeit in Einklang bringen lassen. Es stelle sich hier die Frage nach der Priorität: Müssen sich explizite Normen einem bestimmten Verständnis von Gerechtigkeit beugen oder andersherum? Mira Sievers kam zu dem Schluss, dass aus systematisch-theologischer Sicht der Gerechtigkeit im Zweifelsfall der Vorzug zu geben sei.
Debatten und Austausch
Bei der Tagung stellten 14 Akteure ihr Projekt, ihre Initiative oder ihre wissenschaftliche Arbeit im Offenen Forum vor, bei dem es die Gelegenheit gab, direkt miteinander ins Gespräch zu kommen.
Anschließend wurden einzelne Themen prononciert in fünf thematischen Foren vorgestellt und diskutiert. Prof. Dr. Gerhard Marschütz (Wien) und Danijel Cubelic M.A. (Heidelberg) besprachen im ersten thematischen Forum Formen der Mobilisierung gegen Feminismus und den „Genderismus“, der als Kampfbegriff gegen jedes Bemühen um Gendergerechtigkeit klassifiziert werden kann. Eigens thematisiert und kritisiert wurde auch die Gender-Kritik aus katholischen Kreisen, die die Gender-Theorie als Ideologie ablehnt.
Das Spannungsfeld von Geschlecht, Körper und Sexualität wurde im zweiten thematischen Forum ausgelotet, das von Prof. Dr. Claudia Jahnel (Bochum) und JProf Dr. Mira Sievers (Berlin) geleitet wurde. In Anknüpfung an eine Philosophie des Körpers bei Judith Butler und Michela Marzano wurden christliche und islamische Zugänge zu Körper und Körperlichkeit erkundet.
Im dritten thematischen Forum diskutierten Dr. Heidrun Mader (Frankfurt/Gießen) und Rabeya Müller (Köln) über Amt und Autorität zwischen theologischer Legitimation und ihrer Infragestellung. Sie rekonstruierten die Beteiligung von Frauen in den Gemeinden des frühen Christentums und in der Islamischen Frühzeit, untersuchten die Rezeptionsgeschichte und fragten, was das für die Zulassung von Frauen zu religiösen Ämtern heute bedeutet.
Narrative weiblicher religiöser Gelehrsamkeit untersuchten Mag. theol. Claudia Danzer (Freiburg) in Vertretung von Dr. Franca Spies (Freiburg) und Prof. Dr. Armina Omerika (Frankfurt) im vierten thematischen Forum anhand von Frauengestalten als Lehrerinnen in der islamischen Tradition und einer exemplarischen Textarbeit zur Erhebung Theresas von Avila zur Kirchenlehrerin.
Im fünften thematischen Forum schließlich debattierten Prof. Dr. Kerstin Palm (Berlin) und Prof. Lana Siri PhD (Maastricht) Verhältnisbestimmungen der aktuellsten biologischen Erkenntnisse zu Geschlechterdifferenz, Genderforschung und Theologie.
NachwuchswissenschaftlerInnen für Essays ausgezeichnet
Am Abend wurden Denise Feuerriegel, David Rüschenschmidt und Barbara Hildenbrand für ihre herausragenden Essays ausgezeichnet. Die NachwuchswissenschaftlerInnen nahmen am Essaywettbewerb im Rahmen der Studienwoche „Christlich-islamische Beziehungen im Europäischen Kontext“ teil, die von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Eugen-Biser-Stiftung veranstaltet wird. Die PreisträgerInnen wurden vom wissenschaftlichen Beirat der Georges-Anawati-Stiftung zur Förderung des interreligiösen Dialogs und der friedlichen Begegnung von Christen und Muslimen in Deutschland ausgewählt. Die Laudatio im Namen der Georges-Anawati-Stiftung hielt der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates, Pfarrer Holger Nollmann (Bochum). Die Essays können hier eingesehen werden.
Geistliche Impulse
Eine Eucharistiefeier am Sonntagmorgen, die von Pfarrerin Elisabeth Hartlieb durch eine Predigt mitgestaltet wurde, rundete das geistliche Programm ab. Erstmals wurde am Samstagabend das muslimische Abendgebet als gemeinsames Gebet angeboten. Der interreligiöse Morgenimpuls am Samstagmorgen variierte das Tagungsthema im Nachdenken über Maria als Figur der geteilten Tradition.
Subjektwerdung und Anerkennung
Dr. Dina El Omari (Münster) analysierte die koranische Schöpfungsgeschichte als Geschichte der Subjektwerdung des Menschen. Danach sprach Gott im Anfang: „Siehe, einen Statthalter (Kalifen) will ich einsetzen auf der Erde!“ Nachdem das Menschenpaar entgegen Gottes Verbot von der Frucht des Baumes gegessen hatte, wurde seine Blöße sichtbar. Die Verfehlung wurde ihnen von Gott zwar vergeben, er sandte sie aber dennoch aus dem Paradies auf die Erde. „Wozu dieser Umweg?“ fragt Dina El Omari und antwortet: Das Menschenpaar musste zuerst die Erkenntnis erhalten, dass es mit Freiheit ausgestattet war und verantwortlich entscheiden konnte. Sie forderte: Diejenigen, die zum Objekt degradiert werden, weil sie weiblich, homosexuell oder transsexuell sind, müssen in ihrem Subjektsein geachtet werden.
Prof. Dr. Thomas Weißer (Bamberg) wies auf das Subjektverständnis in Genderdebatten hin: Der Diskurs über Gender frage nach der Achtung des sittlichen Subjekts. Damit reflektierte er auf soziale Ungleichheiten, die sich aus dem Subjektverständnis ergeben. Diesem lägen heteronormative Muster zugrunde, die durch die Analysekategorie Gender aufgedeckt werden könnten. So wird, anstatt die leibliche Differenz als normativ zu verstehen, die Frage der normativen Relevanz der Wahrnehmung von Differenzen zwischen Geschlechtern bzw. Identitäten zum Gegenstand des Diskurses. Mit welchen Gründen werden also Differenzen mit moralischer Bewertung aufgeladen, wird Achtung zugesprochen oder verweigert und wird letztlich Gleich- oder Ungleichbehandlung gerechtfertigt? Thomas Weißer resümierte, dass jedes Sollen den moralischen Status des Menschen als Subjekt, seine Würde und sein Wohl widerspiegeln müsse — Geschlecht und Geschlechtlichkeit seien hier mitzudenken.Auf dem die Tagung abschließenden Podium debattierten Daniel Cubelic M.A., Leiter des Fachbereichs Antidiskriminierung und Diversity Management am Amt für Chancengleichheit und LSBTTIQ-Beauftragter der Stadt Heidelberg und Lehrbeauftragter am Institut für Religionswissenschaft der Universität Heidelberg, Kristian Gaiser, Beauftragter für Gleichstellung und Diversity der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, mit Juliane Hammer, Associate Professor of religious studies an der University of North Carolina at Chanel Hill, Michaela Labudda, Vorsitzende des Bundesverbandes der GemeindereferentInnen Deutschlands und Delegierte der Synodalversammlung, und Prof. Dr. Gerhard Marschütz, Professor für Theologische Ethik am Institut für Systematische Theologie und Ethik der Universität Wien, ob Genderfragen im Spannungsfeld gesellschaftlicher und religiöser Aushandlungsprozesse Sprengkraft oder Bindemittel seien. Die Stimmen hierzu waren vielfältig — die Diskussion geht weiter!